Normsetzung und Normverletzung. Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Normsetzung und Normverletzung. Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Organisatoren
Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.11.2011 - 05.11.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Karl-Peter Krauss, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde

Die internationale Konferenz und Jahrestagung 2011 des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen widmete sich dem Thema „Normsetzung und Normverletzung. Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts“. Den inhaltlichen Schwerpunkt bildeten alltagsgeschichtliche Themen der Gesellschaft der deutschen Ansiedler innerhalb des Mosaiks ethnokonfessioneller Lebenswelten. Ziel der Tagung war es, eine Annäherung an die Alltagspraxis zu erreichen; ein wichtiges Anliegen war die intensive Auseinandersetzung mit bislang eher wenig beachteten Aspekten und Fragestellungen, insbesondere im Spiegel von unerforschten Quellen.

Da Selbstzeugnisse, Biographien, Tagebücher und Briefe eher selten überliefert wurden, sollte über den „Umweg“ der Normverletzung und Normvermittlung auch die „Norm“ selbst erforscht werden. Norm wurde in diesem Zusammenhang sowohl soziologisch als „soziale Norm“ sowie jurisdiktionell als „Rechtsnorm“ verstanden. Lebenswelten sind nach einer Definition von Rudolf Vierhaus wahrgenommene Wirklichkeiten, „in der soziale Gruppen und Individuen sich verhalten und durch ihr Denken und Handeln wiederum Wirklichkeit produzieren.“ Bei der „Normverletzung“ ging es einerseits um deviantes Verhalten von Individuen und Gruppen, andererseits um Delinquenz. Dabei stellt die Rekonstruktion von Lebenswelten in dem ethnokonfessionellen Mosaik des Königreichs Ungarn ein besonders lohnenswertes Experimentierfeld dar.

Auch bei dieser Tagung zeigte es sich, dass die Methoden- und Theoriedebatte in der Geschichtswissenschaft über die richtige Gewichtung von makro- und mikrohistorischen Ansätzen inzwischen einer sachlichen Diskussion gewichen ist, was Heinz Schilling schon 1997 zu der Bemerkung veranlasste, „daß ein solches starrsinniges Entweder-Oder von Makro- oder Mikrohistorie nicht der Königsweg [...] sein kann, sondern Komplementarität und Doppelperspektive angezeigt sind“1. Dabei stellte sich immer wieder die Frage, inwiefern sich alltagsgeschichtliche Einzelereignisse in längere Prozesse, zum Beispiel der Sozialdisziplinierung und des Verrechtlichungsprozesses, einordnen lassen.

Die Beiträge von Wissenschaftler/innen aus den Ländern Ungarn, Rumänien, Slowakei und Deutschland waren drei Sektionen zugeordnet: 1. Konstituierung und Kommunikation von Normen, 2. Normverletzung und Alltagspraxis, 3. Von der individuellen Normverletzung zum sozialen Konflikt.

Nach Grußworten durch den Wissenschaftlichen Leiter des Instituts, Reinhard Johler (Tübingen) und dem Rektor der Eötvös Loránd Universität (ELTE), Barna Mezey (Budapest), hielt ALEXANDER SCHUNKA (Erfurt) den Eröffnungsvortrag über „Normsetzung und Normverletzung in Einwanderungsgesellschaften der Frühen Neuzeit“. Im Mittelpunkt standen das Aushandeln und die Kommunikation von Normen in Einwanderungsgesellschaften in Ostmitteleuropa. Neben methodischen Überlegungen und Problemen der Quellenkritik wurden anhand von empirischen Beispielen drei Problemkreise aus der Alltagsperspektive herausmodelliert: die Infragestellung von Normen durch Immigration; das normsetzende Potential von Migranten in der Einwanderungsgesellschaft sowie schließlich bestimmte Eigenlogiken innerhalb migrantischer Gruppen.

Den Auftakt für den ersten Themenblock bildete der Vortrag von BARNA MEZEY (Budapest) über „Das Gefängnis im ungarischen Vormärz. Zur Rolle der Kerkerstrafe in der Patrimonialgerichtsbarkeit“. Eine Annäherung an diese Thematik sei angesichts des ungarischen Gewohnheitsrechtes und fehlender einheitlicher Regeln nicht einfach. Viele Patrimonialgerichte sahen ihre Funktion in der „Auspressung“ der Untertanen; schon geringe Normverletzungen wurden mit Schlägen, Nahrungsentzug, Fesseln, Halsgeigen sanktioniert. Die Abgrenzung zu kurzen Gefängnisstrafen, so Mezey, war fließend, wobei eine Strafe über neun Monate als Todesstrafe wahrgenommen wurde. Nachwirkung hatte die utilitaristische Auffassung Josephs II. von der Nutzlosigkeit der Todesstrafe.

ZOLTÁN GŐZSY (Pécs) referierte über die „Phasen und Ebenen der kirchlichen Normenkommunikation in Transdanubien im 18. Jahrhundert“ der Nachosmanenzeit und konstruierte drei Phasen. Die Konsolidierungsphase reichte bis in die Zeit um 1740, bei der insbesondere den lokalen kirchlichen Strukturen eine wichtige Rolle zukam. Im Vordergrund stand die Seelsorge (cura animarum); von den Pfarrern wurden eine Vorbildfunktion und ein stabiler modus vivendi erwartet. In einer zweiten Phase (um 1740 bis 1780) intensivierte sich die kirchliche und auch staatliche, von den Bischöfen mitgetragene Normenkommunikation und Normenkontrolle. Joseph II. schließlich setzte kirchliche Strukturen zielbewusst für eine effektive Kommunikation ein, um seine Verordnungen durchzusetzen.

Eine mikrogeschichtliche Nahaufnahme brachte der Beitrag von KARL-PETER KRAUSS (Tübingen). In „Die Geliebte des Grundherrn. Etablierung und Instrumentalisierung von Normen in Eheangelegenheiten“ wurden Momentaufnahmen nicht alltäglicher Lebensabschnitte von Akteuren durch die subsidiäre Analyse der seriellen Quellen der Kanonischen Visitationen innerhalb eines historischen Prozesses verortet und kontextualisiert. Für die Makrogeschichte ging es um die Verifizierung des Konzeptes „Sozialdisziplinierung“, wobei der mikrohistorische Fokus für individuelle Strategien der Akteure stand. Hinsichtlich der Etablierung und Instrumentalisierung von Normen fand die These des Frühneuzeithistorikers Heinz Schilling ihre Bestätigung, der diagnostizierte, dass die frühmoderne Sozialdisziplinierung funktional nicht nur von „oben“, sondern auch von „unten“ gesteuert wurde und den Untertanen eine „Selbstregulierung“ attestierte.

Im ersten Vortrag der zweiten Sektion mit dem Titel „Normverletzung als Auswanderungsgrund – oder warum man Kolonist in Ungarn sein wollte. Der Fall zweier Betrüger 1785/86“ zeigte MÁRTA FATA (Tübingen), wie fließend die Grenze zwischen den normativen Vorgaben der Gesellschaft und einem „kriminellen“, die Rechtsnormen verletzenden Lebensmilieu der Menschen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in einer Gesellschaft des Mangels war. Dabei konnte sie darlegen, dass utilitaristisch-fiskalische Überlegungen im Aufnahmeland die Sanktion von Normen zurücktreten ließ und gab mit diesem Fallbeispiel zugleich einen Einblick über die Auffassungen des frühneuzeitlichen Staates in Bezug auf Strafzweck und Strafform.

JUDIT PÁL (Cluj-Napoca) machte in ihrem Beitrag „Staatsbeamter oder Klient? Ein „Vermittler“ aus Ostungarn zwischen verschiedenen sozialen Normen“ ein komplexes Loyaltäts- und Normengefüge am Beispiel des Finanzbeamten (Steuereinnehmer, tricesimator) aus Sathmar, Gábor Erős, deutlich. Dieser bewegte sich auf mehreren Ebenen und vermittelte zwischen Staatsgewalt, Stadt und seinem Dienstherrn, dem Grafen Sándor Károlyi. Dadurch kam es zu Interessenkollisionen, denn Erős bewegte sich in Systemen mit unterschiedlichen Normen. Im Vortrag wurde analysiert, wie ihm dies in einem sich konsolidierenden frühmodernen Staat mit seinen amtlichen Verordnungen und seinen persönlichen Verpflichtungen gegenüber Károlyi gelang.

In dem Vortrag „Privileg und Emanzipation: Rumänische Gravamina an den Bistritzer Stadtrat, 1783“ befasste sich MARIN POPAN (Bistriţa) mit einem Konflikt zwischen den rumänischen Bewohnern von Bistritz und den sächsischen Bürgern dieser Stadt, die gewillt waren, ihre Privilegien zu verteidigen. Die Forderungen der rumänischen „Villani“ von Bistritz wurden schließlich in einer Eingabe Joseph II. vorgelegt. Die Antwort der Obrigkeit von Bistritz bietet Einblicke, so Popan, in das hergebrachte und für die Städte dieses Raumes beispielhafte Normenverständnis der Bürger von Bistritz: Sie wiesen die Forderungen nicht nur Punkt für Punkt zurück, sondern forderten auch eine Strafe für die Verfasser der Gravamina.

In konfessionell gemischten Gebieten Ungarns stellten Matrimonia mixtae Religionis die Orte der intensivsten interkonfessionellen Kommunikation dar. PETER ŠOLTÉS (Bratislava) führte in seinem Vortrag „Die Konfessionsgrenze im Ehebett. Reversepflicht im Spannungsfeld von Staat, Herrschaft und konfessionell gemischten Gemeinden in Oberungarn“ aus, wie sich im konfessionell heterogenen Milieu lokale Normen und Strategien herausbildeten, mit welchen sich der Staat bei seinen Disziplinierungs- und Homogenisierungs-Maßnahmen auseinandersetzen musste. Als Folge der Resolutio Carolina von 1731 wurde das Recht der Schließung von Mischehen den örtlichen, römisch-katholischen Pfarrern anvertraut und die sogenannte Reversepflicht in die Rechtspraxis eingeführt: Kinder aus Mischehen sollten aufgrund des Reverses als Katholiken erzogen werden. Doch in vielen Orten entzog man sich der strengen Normenkontrolle und die gemischten Ehen wurden zu einem wichtigen Faktor der Entgrenzung konfessioneller Barrieren.

ISTVÁN SOÓS (Budapest) referierte über „Moralische Verfehlungen und die „sittliche Öffentlichkeit“ in der königlichen Freistadt Pest während des Biedermeiers“. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war für Pest nicht nur eine Phase des Umbruchs mit erheblichen wirtschaftlich-gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, sondern es zeigte sich eine ethnisch und sozial sehr heterogene Bevölkerung mit einer starken Zuwanderung vorwiegend armer, auf Arbeitssuche befindlicher Menschen. Der sich beschleunigende Lebensrhythmus stellte das traditionelle Normengefüge in Frage. Dem massenhaften Auftreten von Bettlern, die Zunahme von Straftaten, der Prostitution, Ruhestörungen und anderem begegnete der Magistrat, laut Soós, mit eher erfolglosen repressiven Maßnahmen zur Wiederherstellung der „alten“ Ordnung.

Die dritte Sektion konnte krankheitsbedingt nur durch JOSEF WOLF (Tübingen) repräsentiert werden. Er sprach zum Thema „Kleine Ursache, große Wirkung: Der Hatzfelder Tumult 1767. Zur normativen Verfasstheit der frühen Kolonistengemeinde im Banat“. Dieser Konflikt beleuchtet das Verhältnis der bäuerlichen Ansiedler zu der Kameralherrschaft im Verlauf des Ansiedlungsvorgangs. Obwohl der Handlungshorizont der Kolonisten bestimmt war vom Bestreben nach Rechtschaffenheit und die Wortführer auf mitgebrachte Rechtsvorstellungen zurückgriffen, sah die Herrschaft in den Forderungen einen Auflehnungscharakter. In einem zweiten Teil untersuchte der Referent die genannte Kolonistengemeinde als kollektiven Handlungsakteur. Im Mittelpunkt standen die institutionellen Einrichtungen der Kolonistenorte und deren Rolle bei der eigenständigen Interessenartikulation der Gemeinden in Konflikten mit der Landesherrschaft.

In der Schlussdiskussion „Normsetzung und Normverletzung als Analysekategorie für die Erforschung des Alltags in Einwanderungsgesellschaften“ unter Leitung von Karl-Peter Krauss standen einige zielorientierte Fragen im Mittelpunkt, auch im Hinblick auf den geplanten Tagungsband. Ein Forschungsanliegen aufgrund des evidenten Forschungsdefizits für den Untersuchungsraum ist die Komplementarität alltagsgeschichtlicher Einzelereignisse in längere Prozesse, zum Beispiel der Sozialdisziplinierung oder des frühneuzeitlichen Verrechtlichungsprozesses. Dabei muss es Ziel sein, aufgrund der „herangezoomten“ Einzelereignisse des „außergewöhnlich Normalen“, wie es der italienische Historiker Edoardo Grendi artikulierte, zu einer Annäherung an alltägliche Lebenswelten zu gelangen. Die Tagung hat gezeigt, dass der Ansatz zur Heranziehung und Analyse von Akten zur Normverletzung lohnenswert ist im Hinblick auf neue Erkenntnisse und Impulse zur Erforschung des Alltags in Einwanderungsgesellschaften.

Konferenzübersicht:

Alexander Schunka (Erfurt): Normsetzung und Normverletzung in Einwanderungsgesellschaften der Frühen Neuzeit

I. Konstituierung und Kommunikation von Normen

Barna Mezey (Budapest): Das Gefängnis im ungarischen Vormärz. Zur Rolle der Kerkerstrafe in der Patrimonialgerichtsbarkeit

Zoltán Gőzsy (Pécs): Phasen und Ebenen der kirchlichen Normenkommunikation in Transdanubien im 18. Jahrhundert

Karl-Peter Krauss (Tübingen): Die Geliebte des Grundherrn. Etablierung und Instrumentalisierung von Normen in Eheangelegenheiten

II. Normverletzung und Alltagspraxis

Márta Fata (Tübingen): Normverletzung als Auswanderungsgrund – oder warum man Kolonist in Ungarn sein wollte. Der Fall zweier Betrüger 1785/86

Judit Pál (Cluj-Napoca): Staatsbeamter oder Klient? Ein „Vermittler” aus Ostungarn zwischen verschiedenen sozialen Normen

Marin Popan (Bistriţa): Privileg und Emanzipation: Rumänische Gravamina an den Bistritzer Stadtrat, 1783

Peter Šoltés (Bratislava): Die Konfessionsgrenze im Ehebett. Reversepflicht im Spannungsfeld von Staat, Herrschaft und konfessionell gemischten Gemeinden in Oberungarn

István Soós (Budapest): Moralische Verfehlungen und die „sittliche Öffentlichkeit“ in der königlichen Freistadt Pest während des Biedermeiers

III. Von der individuellen Normverletzung zum sozialen Konflikt

Josef Wolf (Tübingen): Kleine Ursache, große Wirkung: Der Hatzfelder Tumult 1767. Zur normativen Verfasstheit der frühen Kolonistengemeinde im Banat

Anmerkung:
1 Heinz Schilling, Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen“? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht, in: Historische Zeitschrift, Bd. 264, 1997, S. 675–691, hier S. 681.


Redaktion
Veröffentlicht am